Die späte Rache der dicken Stadtkinder?

Ich bin im Allgäu aufgewachsen, man kann mich mit Fug und Recht als „Landei“ bezeichnen. 

Damals, in den späten 70ern und frühen 80ern, war das Leben eines Kindes aus heutiger Sicht geradezu archaisch.
Wir wurden nach Erledigen der Hausaufgaben zum Spielen rausgeschickt. Ohne „play date“, ohne Mobiltelefon. Die wesentlichen Auflagen unserer Eltern: macht nichts kaputt und seid zum Abendessen (wahlweise 18:00 Uhr an der Kirchturmuhr oder Eintreten der Dämmerung) wieder zuhause. Die meisten von uns hatten Fahrräder, die anderen waren dazu verdammt, sich den Hintern auf den Gepäckträgern der Anderen zu malträtieren, um mit dabei zu sein. 

Und „dabei sein“ war damals nicht weniger wichtig als heute.
Die Ansprüche waren jedoch völlig anders: wer schnell laufen, weit springen, zielsicher Tannenzapfen werfen und sich im Ringkampf behaupten konnte, war in der Hackordnung weit oben. Nationalität, Geschlecht sowie sozialer Status spielten eine zu vernachlässigende Rolle, somit haben wir uns gegenseitig völlig unbewusst zur Toleranz erzogen.

Unsere Spiele haben die Einführung der political correctness nicht überstanden: Wer hat Angst vorm schwarzen Mann, Cowboy und Indianer, Soldatenschlachten ohne jegliche geschichtliche Einordnung. Blutige Nasen und Knie waren dabei ebenso an der Tagesordnung wie die Tatsache, dass zuhause darüber geschwiegen wurde, wer dafür verantwortlich war.
Petzen bekamen nämlich Dresche, meist zuerst vom eigenen Vater…

Wir konnten die Baumarten und Pflanzen voneinander unterscheiden. Wir wussten, was man im Wald an Pflanzen, Pilzen und Früchten essen konnte und an welchen Bächen man seinen Durst stillen konnte, ohne Magenkrämpfe zu bekommen. Kurzum: wir lernten völlig automatisch, die Natur zu respektieren und für uns zu nutzen.

Während der Schulferien wurde unsere Hackordnung regelmäßig auf den Kopf gestellt. Die Gruppe war meist nicht vollzählig, weil manche Familien sich tatsächlich Urlaub leisten konnten oder die Gastarbeiterfamilien (neudeutsch: Menschen mit Migrationshintergrund) zu ihren Verwandten nach Italien oder in die Türkei gefahren sind. Für diejenigen, die sich das Jahr über im unteren Bereich der Hackordnung befanden, war die Ferienzeit das Highlight des Jahres. Sie rutschten automatisch nach oben.
Dies war dem Umstand zu verdanken, dass die Gruppe in den Ferien durch neues Klientel zeitlich begrenzt ergänzt wurde: dickliche, verweichlichte Stadtkinder.

Jede Ferien wurden sie uns aufs Neue vor die Nase gesetzt, immer versehen mit dem Hinweis „nett“ zu sein und auf die Neuen „aufzupassen“. 
Laufen konnten sie meist nicht schnell genug um mitzuhalten, sie sprangen in die Bäche statt darüber, Tannenzapfen werfen war ihnen so unbekannt wie unsere Regeln des Kampfes. Es gab natürlich Ausnahmen, aber nicht sehr viele.
Oft versuchten sie, sich mit der damals gängigen Währung „Panini Fußball-Sammelbildchen“ bei uns einzukaufen. Der Erfolg war nie von langer Dauer.
Oder sie haben versucht, uns mit Geschichten vom Stadtleben zu beeindrucken. Ich hatte damals häufig Mitleid mit ihnen und habe sie deshalb reden lassen.

Sie wurden mitgezogen, aber selten wirklich akzeptiert. Sie durften nicht auf den Gepäckträgern mitfahren („Du bist zu schwer“), wurden als letzte in die Teams gewählt („Du bist zu langsam“; „Du kannst nicht werfen“) und mussten sich unseren Respekt im Laufe der Ferien verdienen. Diejenigen, die sich den Großteil des Jahres am unteren Ende der Hackordnung wiederfanden, waren im Umgang mit den Stadtkindern besonders grausam. 

Gegen Ende der Ferien hatten die Stadtkinder meist eine gesunde Hautfarbe, einige Kilos verloren, konnten Laufen, Springen, Werfen und manche sogar kämpfen. Natürlich nicht so gut wie wir, aber doch akzeptabel. Gelernt haben sie das, wie wir auch, auf die harte Tour.

Einige erwiesen sich über die Jahre jedoch als ungeeignet für unseren „Lifestyle“. 
Sie alle schworen dann bei ihrer Abreise bittere Rache.

Irgendwann war die Kindheit vorbei, Berufsleben, Familie und sozialer Aufstieg traten in den Vordergrund. Im Inneren bin ich Landei geblieben. Wie jeder Allgäuer liebe ich meine Heimat, habe ein völlig selbstverständliches Verhältnis zur Natur, würde mich als tolerant bezeichnen und habe meine beiden erwachsenen Töchter ganz im regionalen Sinn zur Bodenständigkeit erzogen.

Ich lebe mittlerweile in einer französischen Großstadt. Ich pendle nicht zum Dienst, ich „commute“ jetzt. Also eigentlich fahre ich immer noch mit dem Fahrrad, aber das sagt man heute nur noch, wenn man ein Liegerad mit Sicherheitsfähnchen sein Eigen nennt. 

Im Gegensatz zu Deutschland ist die Digitalisierung hier nicht nur Wahlkampfthema. Ich habe überall mindestens 4G Netzabdeckung, meine Steuererklärung mache ich online (in 10 Minuten!) und Termine bei Ämtern oder Ärzten bekommt man ebenfalls fast ausschließlich online.
Wenn ich nach Hause ins Allgäu fahre, streamt mein Handy verlässlich Musik und Podcasts aufs Autoradio, bis ich über die deutsche Grenze fahre. Dann: schwups, EDGE, zwei Balken und aus ist´s mit der guten Musik.
Frankreich ist alles andere als ein Traumland, aber in dem Aspekt sind die Franzosen uns weit voraus. Wo noch? Gesunder Patriotismus, aber das würde jetzt zu weit führen.

Politisch war ich immer interessiert, berufsbedingt allerdings mit klarem Schwerpunkt auf Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Deutschland ist wiedervereinigt, unsere Gesellschaft ist tolerant wie nie und wirtschaftlich stehen wir noch ganz gut da, zumindest offiziell.

Den Aufstieg neuer Parteien und Interessenvertretungen diverser Klientele beobachtete ich über die Jahre oft argwöhnisch, aber eher mit dem auch meiner Berufsgruppe entgegen gebrachten „freundlichen Desinteresse“. 
Die Grünen beispielsweise stiegen nach vielen Skandalen ihrer Gründungszeit zur Regierungspartei auf und sind zeitweise wieder völlig obsolet geworden. Der Atomausstieg ist beschlossen, Naturschutz ist „in“ und wer hat in den letzten Jahren ernsthaft eine größere Anschaffung getan, ohne sich Gedanken um die Nachhaltigkeit zu machen?
Interessenvertretungen zu Religion, Gender, sexueller Vielfalt sowie Gleichberechtigung der Frau haben ihre wesentlichen Ziele ebenfalls erreicht. 

Also sollte doch alles gut sein, oder? Ich höre und lese in den deutschen Medien von einer Spaltung der Gesellschaft, die ich in meinem schon lange nicht mehr ausschließlich aus Dorfkindern bestehenden Bekanntenkreis so nicht wahrnehme. 
In den sozialen Medien allerdings schon. Wer sich mit der Gedankenwelt von social justice warriors auseinandersetzen möchte, dem empfehle ich dringend einen Twitter-Account. Das aufmerksame Lesen und der Versuch, die Meinungen der sich dort äußernden Menschen nachzuvollziehen, schulen definitiv die Frustrationstoleranz.

In diesen Medien sind all die Gruppen (über-)repräsentiert, die ihre wesentlichen Ziele schon längst erreicht haben. Hier schlagen sie aufeinander ein. Nicht fakten-, aber emotionsgeladen. Und sie schlagen auf Menschen wie mich ein, auf „alte weiße Männer“. 
Es reicht nämlich heutzutage nicht mehr aus, wenn Homosexuelle einem (Achtung: Wortwitz) „am Arsch vorbeigehen“ weil sie eine völlig selbstverständliche Daseinsberechtigung in unserer Gesellschaft haben, oder man die Gleichberechtigung der Frau weitgehend als vollzogen bewertet. 
Randgruppen aller Art scheinen im aktuellen Weltbild augenscheinlich die besseren Menschen zu sein, somit sind sie in Summe keine Randgruppen mehr. Was bleibt, ist ein Wettkampf um Platz 1 in der Opferhierarchie. 
Es reicht auch bei Weitem nicht mehr aus, die Umwelt zu schützen- man muss die Erde und das Klima „retten“. Damit rechtfertigen diese Interessenvertreter ihre Existenz und treiben Gesellschaft sowie Politik vor sich her.

Kurzum: wer wie ich als heterosexueller, arbeitender und steuerzahlender Familienvater versucht, tolerant und umweltbewusst durch´s Leben zu gehen, leistet offenbar einen zu geringen gesellschaftlichen Beitrag.
Zumindest nehme ich die Interessen dieser Zielgruppe deutlich unterrepräsentiert wahr. Aber ich bin ja auch ein „alter weißer Mann“. Dabei fühle ich mich übrigens nicht als Opfer. Dafür bin ich viel zu stolz auf das, was ich erreicht habe.

In diesen Diskussionen sehe ich sie dann plötzlich wieder vor mir, die dicklichen, verweichlichten Stadtkinder. Sie sind cleverer geworden, schlanker, leben jetzt gesünder (oft vegan), treiben Sport, sind eloquent. Ich sehe sie in Talkshows, in den Nachrichten, in den Zeitungen. Sie sind heute Politiker, Journalisten, Industrielle. Sie sondern immer noch Blödsinn ab, verkaufen es aber deutlich besser. Der fehlende Inhalt ihrer Phrasen scheint niemand aufzufallen, oder es interessiert schlichtweg keinen mehr.

Die Folgegeneration der Stadtkinder bezeichnet sich oftmals als Influencer oder Aktivist (ein Begriff, der von sich aufopferungsvoll für das Gemeinwohl einsetzenden Menschen bis hin zu Verbrechern reicht, die sich auf Bäumen anketten und Polizisten mit Exkrementen bewerfen. Letztere haben Artikel 1 unseres Grundgesetztes definitiv nicht verstanden…).
Freitags „streiken“ sie fürs Klima statt sich bei „Jugend forscht“ zu engagieren, natürlich tun sie dies in der Stadt. Dank ihrer Eltern haben sie dort die notwendige Unterstützung und Medienpräsenz, um die Regierung vor sich herzutreiben. Und ja, es ist beeindruckend, mit wieviel Durchschlagskraft dies geschieht.

Plötzlich haben wir nämlich Politik, die ich nicht mehr als „vernunftbetont“ bezeichnen würde. Von bemitleidenswerter Aussenpolitik über einen angeblich durch den Finanzminister „erwirtschafteten“ Steuerüberschuss, der nichts anderes bedeutet, als dass man dem Steuerzahler zu viel Geld abgenommen hat- bis hin zu einem Klimapaket, das mich an den mittelalterlichen Ablasshandel erinnert.

Ich selbst habe über die Jahre gelernt, dass Laufen, Springen, Werfen und Kämpfen nicht die Qualitätsmerkmale sind, die mich im modernen Leben dauerhaft nach vorne bringen. Auch ich habe mich angepasst, man spricht hier wohl von „weiterentwickelt“. Aber ich verleumde mich dabei nicht bis zur Unkenntlichkeit.

Ich muss mir allerdings auch eingestehen, dass ich die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung zwar kommen sah, aber mich zu sehr auf ein vernunftbasiertes Ergebnis der Debatte verlassen habe. Ich habe mich nicht ausreichend engagiert. Als Ausrede dienten mir häufig andere Prioritäten sowie mein Leben im Ausland.  AfD-Wähler würden mich wohl als „Schlafschaf“ bezeichnen.

Oder anders: wie früher habe ich die Stadtkinder aus Mitleid oder Desinteresse reden (und machen) lassen. 

Im Ergebnis schreibt mir die Folgegeneration der verweichlichten Stadtkinder heutzutage vor, wie ich zu leben habe. Ob das die angedrohte späte Rache ist?

Gut gespielt, Stadtkinder-das Spiel ist allerdings noch nicht vorbei…

Veröffentlicht von Ollie Goehring

Bildungsbürger, Stoiker, Staatsdiener. Oft kritisch, meist sarkastisch, immer ehrlich

2 Kommentare zu „Die späte Rache der dicken Stadtkinder?

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